«Für mich war das grösste Glück, überhaupt auf der Bühne stehen zu dürfen»
Romeo, Lysander, Peer Gynt - Jason Nicoll tanzte sie alle. Zusammen mit dem KUMAG blickt der Balletttänzer zurück auf seine Karriere, erzählt von seiner Traumrolle und erklärt, welche Bedeutung der Applaus für ihn hat. 
Es ist kurz nach halb vier. Der gebürtige Engländer sitzt in seinem Wohnzimmer in Basel und lächelt leicht. «Ich war jemand, der vor einer Vorstellung nie von Nervosität geplagt wurde. Eher das Gegenteil war der Fall. Ich wurde sehr ruhig», erklärt der 48-Jährige. Es handle sich – selbst bei Premieren – um einen weiteren Durchlauf von Tanzschritten und Bewegungsabfolgen, die er schon einmal geschafft hatte. Schon seitdem er jung war, war ihm bewusst, dass ihm die Nervosität nicht weiterhelfen würde.
Doch lange bevor Jason auf der Bühne stand, begann vor über 40 Jahren seine Ballettkarriere in England. Er hat von sich selbst aus nie die Lust verspürt, Balletttänzer zu werden. Doch mit sieben Jahren, als seine jüngere Schwester mit Ballett begonnen hatte, änderte sich das. 
«Ich weiss noch ganz genau, es waren drei Samstage aufeinander», erklärt Jason mit einem Schmunzeln im Gesicht. Zusammen mit seiner Mutter brachte er seine Schwester in die Ballettstunde – die Ballettlehrerin war eine langjährige Familienfreundin. Diese fragte ihn, ob er zusehen wolle. Seine Reaktion: «Mhäää». 
Den Samstag darauf jedoch fragte Jason seine Mutter, ob er doch zusehen konnte, weil er eigentlich schon Lust dazu hatte. «Meine Mutter meinte, dass ich jetzt selber fragen sollte, weil ich letzte Woche nein zum Zuschauen gesagt hatte.» Er tat es und durfte. Am dritten Samstag fragte er seine Mutter, ob er mitmachen durfte. «Ich sollte selber fragen», meinte sie. Gesagt, getan. «Ich durfte.» Damit begann seine Passion für die Kunstart.
Mit 10 Jahren entdeckte er ein Inserat der Royal Ballet School für ein Vortanzen. Jason ging mit diesem zu seiner Mutter und sagte, er wolle dahin. «Das war die Entscheidung für meine Berufung, für das, was ich gerne machen will», fasst Jason den Start seiner Karriere zusammen.

Aus seiner Zeit auf der Bühne hat Jason viele Bilder in seiner Wohnung aufgehängt. | Foto: Linda Mürset

Kompaniewechsel und Traumrollen
Von der Royal Ballet School ging es für Jason zur Elmhurst Ballet School und anschliessend, für ein letztes Jahr zur Central School of Ballet, wo er mit der Junior Company, als Teil seines Abschlusses, durch England tourte. Nach einem Vortanzen in London erhielt er sein erstes Engagement als Tänzer in Basel unter der Leitung des Ballettdirektors und Choreographs Youri Vamos.
Während seiner Zeit in Basel bekam Jason seine Traumrolle: Romeo aus Romeo und Julia. «Als Richard Wherlock – der Direktor des Basler Balletts – mich 2003 in sein Büro rief und mir sagte, ich soll den Romeo in seiner Produktion von Romeo und Julia tanzen, ging ein Traum in Erfüllung.»
Jason erklärt langsam, dass ihm die Worte fehlen würden, um seine Gefühle in diesem Moment in diesem Büro richtig benennen zu können. So unbeschreiblich waren dieses Vertrauen und diese Ehre, erklärt der Ex-Profi, als er auf diesen Moment zurückblickt.
Denn Wherlock war damals nicht nur ein Direktor und Choreograph für Jason: «Wir teilen viel. Zum einen sind wir beide Engländer, das verbindet uns. Auf der anderen Seite war er immer eine Art Vaterfigur für mich.» Das Vertrauen, das Wherlock in ihn als Balletttänzer hatte, war alles, was für Jason zählte.
Nach dieser Rolle stieg seine Bekanntheit an. Er erhielt sogar kleine Liebesbriefe von jungen Mädchen. «Das war mir immer etwas unangenehm», erzählt der Ex-Profi. Er hat wenige Dinge aus seiner Karriere in einer weissen Kartonschachtel aufbewahrt, darunter Postkarten oder Zeitungsartikel – ein Liebesbrief ist nicht dabei.
Applaus und Abschied
Mit Romeo verkörperte Jason jedoch nicht die einzige bekannte Rolle. Während seiner Zeit schlüpfte er in diverse Figuren. Sein Glück konnte er jedoch nicht an einer einzigen Rolle festmachen. 
 «Romeo oder Lysander aus `ein Sommernachtstraum` waren bestimmt Rollen, die ich lieber getanzt habe als andere. Für mich war das grösste Glück, überhaupt auf der Bühne stehen zu dürfen.» Auch wenn er bloss in der hintersten Reihe stand und mit seinen Freunden Faxen machen konnte, was zählte, war die Bühne, erklärt der 48-Jährige lachend.
Doch nicht etwa die Bühne war der schönste Teil einer Vorstellung, erzählt Jason. Das schönste war der Applaus gewesen. Nicht weil er anschliessend nach Hause gehen konnte, um etwas essen zu können, «sondern, weil ich aus dem Applaus lesen konnte, ob es dem Publikum gefallen hatte oder nicht».

Die Premiere von Romeo und Julia wurde 2004 auf der Grossen Bühne im Theater Basel aufgeführt. | Foto: Linda Mürset

Auf dem Hoch seiner Karriere nahm diese jedoch ein Ende. Nach einer Vorstellung von Bolero am 06. Dezember 2009 stand Jason das letzte Mal auf der Bühne. «Dieses Datum ist mir geblieben, weil mein Halbbruder aus England angereist ist und seine Lieblingsmusik als Ballett mit mir als Balletttänzer gesehen hatte.» Zum Zeitpunkt seiner letzten Vorstellung wusste Jason nicht, dass er zum letzten Mal die Bühne als Tänzer betreten würde.  
Während seiner gesamten Karriere war ihm das Verletzungsrisiko seines Berufes bewusst. Das hatte ihn jedoch nie daran gehindert, weiterzumachen und sein Bestes zu geben. Nach der dritten Vorstellung von Peer Gynt – er war damals 29 – folgte seine erste Rückenoperation. Er erholte sich und tanzte weiter. Zwei weitere Operationen folgten.
«Heute weiss ich, dass ich psychisch nicht mehr in der Lage gewesen wäre, nach der dritten OP wieder auf das Niveau eines Profis zu kommen», erklärt Jason ruhig. «Richard kam auf mich zu und meinte, ich solle mir Gedanken über meine Zukunft machen und meine Karriere beenden, wenn sie auf einem Hoch und nicht auf einem Tief ist». 
Daraufhin wechselte Jason mit der Unterstützung des Theater Basels und Richard Wherlock von vor der Bühne hinter die Bühne als Bühnentechniker.
Ob das Ende seiner Ballettkarriere jedoch wirklich an seinem Rücken lag, kann der Wahlbasler nach Verarbeitung und vergangener Zeit jedoch nicht definitiv beantworten. Es waren viele kleine Dinge, die zu seinem Wechsel geführt hatten, erklärt er.
«Ich habe aber keinen einzigen Wechsel während meiner Karriere bereut.» Weder den Wechsel einer Kompanie, noch den Wechsel seines Platzes im Theater.
Doch obwohl Jason nicht mehr auf der Bühne steht, spielt der Tanz heute noch eine Rolle in seinem Leben. Er unterrichtet Ballett auf Hobbyniveau, aber in Geschwindigkeit eines Profitrainings. «Das macht mir Spass und ich behaupte, dass auch die Frauen, die zu mir in die Stunde kommen, Spass daran haben», erklärt Jason laut lachend in seinem Wohnzimmer. 

Magali Egger
Jason musste sich während seiner Zeit als Balletttänzer viele Vorurteile anhören. Im KUMAG Podcast spricht er darüber.

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