«Das Model lebt von deinen Gefühlen und du lebst von den Gefühlen deines Models»
Festgezogene Knoten, eng anliegende Seile – Was für einige auf den ersten Blick als Fetisch verstanden wird, ist für die Shibari-Künstlerin Liebe auf den ersten Blick. Hinter der japanischen Fesselkunst verbirgt sich viel mehr als blosse Erotik. Im Interview erzählt sie ihre Erfahrung.
Vor über einem Jahr hast Du begonnen, aktiv Shibari zu praktizieren. Wie bist Du dazu gekommen?
Schon seitdem ich zum ersten Mal ein Foto von Shibari gesehen habe, wollte ich es selbst machen. Aber effektiv begonnen habe ich mit 22. Mein jetziger Partner hat mir dabei geholfen, mir selbst zu vertrauen und mich gepushed mich zu wagen, aktiv in das Thema einzutauchen. Ich habe entschieden, einen Workshop zu besuchen und habe vor ein paar Monaten ein Shibaristudio in der Region Basel gefunden. Seitdem bin ich alle ein bis zwei Wochen dran.
Was versteht man genau unter der Kunstart «Shibari» und woher kommt sie?
Shibari ist eine japanische Fesselkunst, die mithilfe von Wicklungen und abschliessenden Knoten Models so fesselt, dass sie teilweise bewegungsunfähig sind. Das löst sowohl im Model als auch bei dem, der fesselt Gefühle und Emotionen aus.
Ich habe gelernt, dass Shibari ursprünglich aus der japanischen Kampfkunst der Samurai kommt. Diese nutzten jeweils zwei Seile anstelle von Metallhandschellen und Ketten, um ihre Opfer so schnell wie möglich bewegungsunfähig zu machen. Die Seile wurden einerseits im Kampf verwendet, aber auch um ihre Opfer festzuhalten und sie zu foltern. Gleichzeitig konnten sie auch symbolische Zwecke haben oder jemanden kennzeichnen. 
Später wurde Shibari im Theater verwendet. Oftmals wurde zum Beispiel eine Prinzessin durch Shibariseile festgehalten und der Held musste sie retten. Dadurch wurde Shibari schliesslich auch zu einem Fetisch gemacht. Als es schliesslich mit dem Bondage des Westens in Verbindung kam, entdeckte die Pornoindustrie diese Kunstform für sich. Diese erfreute sich enorm an der Fesselkunst.
Gibt es einen Unterschied zwischen dem Shibari, das du praktizierst und dem, das in der Pornoindustrie genutzt wird?
Auf jeden Fall. Mir fällt auf, dass das, was in Pornos als Shibari bezeichnet wird, oftmals gar keines ist. In Pornos liegt der Fokus auf der Unfähigkeit, sich bewegen zu können und wirkt auf mich mehr wie westliches Bondage und weniger wie Shibari.

Die Seile spielen im Shibari eine zentrale Rolle. Sie können aus Hanf, Jute, Kokosnussfasern oder anderen Materialien bestehen. | Foto: Carmen de Arx 

Und worauf liegt der Fokus im Shibari denn?
Ich sehe Shibari als ein Erlebnis oder als Journey. Es gibt so viele Ebenen, die für Aussenstehende gar nicht erkennbar sind. Das Fesseln ist dabei nur ein Werkzeug. 
Im Shibari lernt man den Verlauf der Nervenbahnen und die Anatomie eines Körpers kennen, man lernt richtig zu kommunizieren und Menschen zu navigieren oder auch Bedürfnisse deines Gegenübers zu erfüllen und dich und deine Gefühle dabei nicht zu vernachlässigen. Für mich ist es schwierig, einen einzelnen Fokus zu nennen, weil Shibari für jeden anders ist. Manchmal nutzt man es, um zu meditieren, ein anderes Mal, um neue Fesseltechniken auszuprobieren, die man in einem Workshop gelernt hat.
Wie kann ich mir so einen Shibari-Workshop vorstellen?
Man geht eigentlich immer mit einem Model zusammen hin. Ich mache das zum Beispiel meistens mit einer spezifischen Freundin. Das Prinzip ist bei jedem Workshop oftmals gleich: Es gibt eine Instruktion einer Wicklung, die mit einem Knoten abschliesst. Dann probiere ich es am Model aus und das wiederhole ich so oft, bis ich die Technik anfange zu verstehen. Je nachdem kann es auch sein, dass Models gewechselt werden oder dass man die Rolle der Gefesselten und der Fesselnden wechselt.
Du meintest in der vorletzten Frage, dass der Fokus bei jedem Shibari-Artisten anders ist. Wie definierst Du für Dich die Fesselkunst?
Ich glaube, weil es so eine breite Kunstform ist, will ich mich mit einer allgemeingültigen Definition nicht zu fest einengen. Für mich ist Shibari eine Verbindung zwischen Ästhetik und Gefühlen. Eine nonverbale Ausdrucksform, an die viele nicht denken und unbekannt ist. Aber genau deswegen wertschätze ich sie auch so. Ich habe das Gefühl, nur über Shibari mit jemand anderem in eine so tiefe Beziehung eintauchen zu können. Wenn ich jemanden fessle, spüre ich viel Wertschätzung für die Kunst, für mein Model und für mich selbst.
Kannst Du das etwas genauer erklären, mit der Tiefe der Beziehung?
Ich fessle in der Regel nur Freundinnen. Ich fühle mich in einer solchen Session einfach wohler und selbstbewusster, wenn ich das mit einer Freundin oder meinem Partner mache. Zudem denke ich, dass ich, – wenn etwas schief laufen würde, – leichter einen Zugang zu einer Bekannten finde, als zu einer Fremden. 
Während der Sessions selbst mache ich viele Sicherheitschecks, weil es schwere Verletzungen geben könnte. Nerven können beschädigt oder der Blutfluss kann unterbrochen werden. Es gibt Models, die wegen einer fehlerhaften und zu lange andauernden Fesselung wochenlang nicht mehr schreiben konnten. Das ist bei mir zum Glück noch nie passiert. 
Ich frage auch sehr oft nach, ob es ihr gut geht. Das ist vielleicht nicht immer perfekt, weil man im Shibari will, dass die Stimmung beibehalten wird und sowohl Künstlerin als auch Model innerlich abstellen können. Dafür soll nur nonverbal kommuniziert werden. Das fällt mir jedoch schwer. Ich frag lieber zweimal nach, ob alles ok ist, als zu wenig

Eine Fesselung besteht aus verschiedenen Wicklungen mit abschliessenden Knoten. | Foto: zvg 

Musstest Du schon einmal eine Sitzung abbrechen?
Nein, bis jetzt noch nicht. Ich selbst habe auch noch nie etwas Negatives erlebt, wenn es um Shibari geht.
Kennst Du Personen, die negative Erfahrungen gemacht haben?
Ja, das tue ich. Ein Model hat mir bei einem Workshop erzählt, dass sie für jemanden gemodelt hat, der unbedingt zeigen wollte, was er kann. Sie hatte das Gefühl, nicht als Mensch gesehen zu werden, sondern eher als Leinwand, die «hinhalten» muss. Für sie war es ein Gefühl, als wolle er sich nur an ihr «austoben» und den anderen zeigen, wie gut er ist. Obwohl es ihr unangenehm war und sie sich emotional nicht wertgeschätzt gefühlt hat, hat sie sich in dieser Situation nicht getraut, etwas dagegen zu sagen. Nach der Fesselung hat sie sich sehr gebraucht gefühlt.
Könntest Du ein Model emotional auffangen, wenn es ihr in einer Session zu viel wird?
Ich hoffe es. Ich denke aber nicht, dass ich jetzt einfach sagen könnte, dass ich das problemlos schaffe. Das wäre naiv von mir, denke ich. Aber ich würde dem Model dabei helfen, sich so schnell wie möglich wieder sicher zu fühlen und ihr den Raum geben, den sie braucht. Vor solchen Situationen habe ich sehr grossen Respekt, würde aber auf jeden Fall immer mein Bestes geben.
Blicken wir abschliessend nochmals auf Deine Fesselungen zurück. Hast Du ein besonderes Ritual, das Du während einer Session immer verfolgst? 
Wenn ich genau darüber nachdenke, habe ich wirklich ein Ritual. Ich gehe immer zu meinen Freundinnen nach Hause. Wir sitzen «kaffekränzchenmässig» zusammen, chillen und reden über Gott und die Welt. Wir tauschen Vertrautheit über unsere Gespräche aus und spüren unsere Freundschaft. Dann kommt der Moment, in dem wir uns denken «Komm machen wir doch». Dann fesseln wir. Am Ende sitze ich meistens hinter ihnen, mache die Fesseln auf und umarme sie von hinten. So bleiben wir dann einige Minuten sitzen. Dann gehen wir wieder zurück zum Kaffeekränzchen. 
Wenn Du einem Shibari-Neuling etwas mitgeben könntest, was wäre das?
Am Anfang ist das vielleicht schwer, aber man soll versuchen, sich so hinzugeben, wie das Model sich einem hingibt. Man verkopft sich viel zu schnell und wird nervös – vor allem am Anfang. 
Das Model lebt von deinen Gefühlen und du lebst von den Gefühlen deines Models. Diese Hingabe soll unbedingt beidseitig sein. Man sollte nie vergessen, dass man beim Fesseln nicht allein ist. Shibari ist eine Kunstform, die zwischenmenschliche Bindung einschliesst. Und das ist wunderschön.
Was sind eigentlich die must-haves einer shibari-Künstlerin? Let's find it out. 

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